September 8, 2024

Die letzten Kommentare haben mich mal wieder auf ein Thema gebracht, dass mir schon seit vielen Jahren auf den Nägeln brennt: Nämlich, dass es sehr gefährlich sein kann, jemandem zu nahe zu sein, der sich gerade aus einer schwierigen Lage zu befreien versucht. Vor allem, wenn viel Druck und Trauma mit im Spiel sind.

Ich beobachte diese Dynamik in Gruppen wie Magick Male, auf der politischen Ebene, an persönlichen Erlebnissen, und nicht zuletzt auch an mir selbst. Aber der Reihe nach.

Die Geschichte meiner Mitbewohnerin, Ruiqi M.

Vor einigen Jahren habe ich im Studentenwohnheim in Hürth gelebt. Ein mehr oder weniger schönes Hochhaus, voller winziger Wohnungen und klammer Studenten. Mit dabei war auch meine Mitbewohnerin Ruiqi, eine kleine, schüchterne Chinesin, die dort Biochemie oder so etwas studierte. Wir schäkerten etwas, viel von ihrer Arbeit habe ich lange Zeit nicht mitbekommen, dafür später umso mehr.

Sie war wohl von ihrer Familie geschickt worden, um dort einen Doktortitel zu erwerben. Dabei lief es nicht so ganz rund, und das Flirten wurde denn auch sehr anstrengend. Sie erzählte mir manchmal davon, dass ihre Lehrerin sie wohl gerne mal wegen ihrer “dummen Fragen” anblaffte, und auch sonst wirkte sie ziemlich verloren und auch verschlossen. Eine deutsche “Freundin” kam einmal mit dazu und hat sie dann so scharf gemacht, dass sie sich auch mal im Zicken-Modus aufzuspielen versuchte. Ich solle gefälligst meine Teller spülen. Zum Glück war das bald wieder vorbei.

Wie ging es weiter? Bewegt. Eines Tages wirkte sie sehr verwirrt. In ihrem Labor sei etwas Illegales passiert, und sie müsste die Polizei rufen. Sie könnte niemandem vertrauen, außer der Frau vom China-Imbiss. Vielleicht habe sie etwas Illegales im Labor getan, und sie müsste ins Gefängnis. Sie müsse mich um etwas “schreckliches bitten”, nämlich mit ihr zu schlafen, aber erst, nachdem sie roten Wein getrunken hätte, um die Krebsforschung voranzutreiben.

Vor allem der letzte Satz hat dann meine Alarmglocken aktiviert. Das Ende vom Lied war, dass sie nach zwei Anläufen für eine Weile in die geschlossenen Psychiatrie eingewiesen wurde, aber nicht ohne, dass sie noch einmal eine Nacht in ihrem Zimmer schlief, und mich anblaffte, ich solle nicht mit ihr reden.

Am Ende stellte sich heraus, dass sie wahrscheinlich Panik vor einer Prüfung hatte, denn zwei chinesische Freunde, die dann auf einmal auftauchten, fanden ihr Zimmer mit allem möglichen Zeugs vollgekritzelt vor, sowie Unmengen von Geschenken, die in China wohl traditionell Lehrern gegeben werden, um gute Noten zu erhalten.

Komische Fragen, und am Ende eine sehr pampige Ruiqi: Das Ende vom Lied

Einige sehr unangenehme Momente, und sehr wechselhafte Fragen später (“Lass mich dich umarmen”, “ähm, wieso hast du damals eigentlich den Krankenwagen gerufen?”, “bedeutet das kleine Geschenk da irgendetwas, oder…”) war ich dann aus der Nummer erstmal raus, als ihre Mutter eingeflogen ist und sich um sie gekümmert hat.

Allerdings hat mein Nachmieter die Pampe dann abbekommen. Sie reagierte zum ersten Mal sehr gereizt auf irgendeine Geschichte, und wirkte auch sonst so, als würde sie langsam mal die Zähne aufbekommen. Typisch Asiatin: Sehr ruhig, um dann explosionsartig abzudrehen.

Bei mir hat die Geschichte einige Erkenntnisse hinterlassen. Nämlich, dass es nicht gerade gut ist, jemandem zu nahe zu sein, wenn der sich aus einer verwirrenden Situation befreien möchte. Was wohl passiert wäre, wären wir uns vor unserem Zusammenbruch wirklich näher gekommen? Wäre ich dran geblieben und wir hätten uns zumindest mal geküsst? Am besten überhaupt nicht darüber nachdenken. Das hätte sehr gruselig für mich werden können.

Selbes Spiel überall

So. Und dieses Spiel beobachte ich eigentlich überall, wenn es darum geht, aus begrenzenden Glaubenssätzen auszubrechen, Traumata zu überwinden, und vielem mehr. Ich verweise da auf das alte Konzept: “Problem – Kompensation – Integration”. Das mit der Kompensation endet allerdings für viele fast nie, wir sehen es gerade bei der AfD und natürlich bei den Grünen: Schuldgefühle oder lange Unzufriedenheit brechen sich Bahn, beide Seiten steigern sich gerne einmal in Dinge hinein, und wer darunter steht, der sollte lieber einen dicken, fetten Regenschirm aufspannen. Selbstironie geht komplett flöten, und Fanatismus ist am Ende das einzige, was noch übrig bleibt.

Und genau dasselbe beobachte ich auch bei Orlando, bei Magick Male, und es lässt sich auch auf verschiedene andere Situationen übertragen.

Eigentlich tun solche Menschen nämlich genau das, was eigentlich notwendig ist, um sich zu befreien. Dabei kommen aber natürlich – je nach Muster und Traumata – auch alle möglichen andere Dinge hervor, die teilweise komplett wirr und irrational erscheinen können. Genau hier scheitert die Psychologie oft, noch schlimmer ist es aber in “Selbsthilfegruppen”, die dann gerne einmal ihre persönlichen Dauertraumata zu Mantren machen. Vor allem nette Sprüche wie “die Welt schuldet dir nichts”, oder “niemand interessiert sich für dein Gelaber oder deine Probleme” kommen von der “härteren” Fraktion gerne einmal, während die warme, einfühlsame Fraktion das Problem eher durch ewiges Rotieren im Kreis, Überidentifikation und Überanalyse verstärkt und “einreibt”.

Was die Community und Orlando nicht mit eingerechnet hat, und was beim Thema “Mannwerdung” noch schwieriger wird…

… ist, dass Arbeit auf diesem Niveau – vor allem mit extrem viel Emotionalität – zwangsläufig einen Backlash hat. Und, dass es auch sehr viel Arbeit von den “Helfern” oder zumindest des Umfeldes erfordert, da mitzuziehen. Eben das erwartet der gewöhnliche Community-Teilnehmer nicht. So sind die “Säuberungsaktionen” entstanden, und so entstehen auch die testosterongeladenen Kommentare in der Community oder hier im Blog.

Traue nie jemandem, der Themen hat. Vor allem, wenn er aus ihnen entkommen möchte. Das kann aber mal so richtig knallen.

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